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Einen Artikel über mich vom November 2013 findet ihr hier ...

 

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Erzählung, ca. 40 Seiten, auf Amazon als Ebook, Copyright 2014

Wiener Roman

 

Eine mystische Erzählung aus dem Alten Wien aus der Zeit nach dem 1. Weltkrieg

 

 

 

 

»Eva reichte Adam die Frucht, obwohl Gott seinen Kindern verboten hatte, vom Baume der Erkenntnis zu naschen. Damit beginnt unsere Tragödie.«

 

E. S.

 

1

 

Meine Mutter würde wohl noch nach ihrem Tod die Zeiten herbeisehnen, in denen Seine Hoheit, der Kaiser Franz Josef, noch gelebt hat. Beiden ist nichts erspart geblieben! Und beide haben ihren Söhnen niemals verziehen, dass sie sich in die falsche Frau verliebt haben, womit das Fiasko seinen Lauf nahm.

„Wie viel hast du für die Fahrt bezahlt?“, fragte sie mich.

„Fünfzig Heller, Mama.“

„Seit wann kassieren diese Halunken im Voraus? Dass Du dich auch immer über das Ohren lassen musst! Wie dein Vater selig.“ Sie schüttelte den Kopf.

Ich hatte dem Fiaker ein Bündel Scheine in die Hand gedrückt, die Vorderseite in deutscher Sprache, die Rückseite in Ungarisch.

„Als Seine Hoheit unser Vaterland noch regiert haben, war das Geld noch was wert!“, sagte sie und sog an ihrer Zigarette. Sie blies mir den Rauch ins Gesicht. Zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag, im letzten Jahr, hatte sie sich die Zigarettenspitze gegönnt. Das Accessoire verlieh ihrem Laster – zumindest glaubte sie daran – eine damenhafte Eleganz! Als der Kaiser noch gelebt hatte, hätte keine anständige Frau in der Öffentlichkeit geraucht, war ich versucht, ihr zu entgegnen. Ich entschied mich jedoch für die diplomatischste aller Antworten an diesem Tag:

„Man heiratet doch schließlich nicht jeden Tag, Mama!“

Und zog das Rouleau zu. Es handelte sich um einen geschlossenen Wagen. Meine Mutter weinte. Sie saß mir gegenüber. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Thereza lächelte an meiner Seite. Die Finger ihrer Hände ruhten ineinander verschlungen über ihrem gewölbten Bauch, als spräche sie innerlich ein Gebet. Sie tat, als hätte sie unser Gespräch nicht verstanden. Thereza war das glatte Gegenteil von meiner Mutter: Ihr Haar waren blond, zu einem Zopf geflochten, der bis zu den Hüften reichte. Mutter trug seit Vaters Tod einen Pagenschnitt, sie hatte sich die grauen Haare brünett gefärbt. Die Bräune in Therezas Gesicht hielt sich selbst den Winter über, im Gegensatz zu Mutters ganzjähriger Blässe – eine Folge ihrer immerwährenden Fastenkuren. Thereza trug ein Kleid, wie es die Frauen in den pannonischen Tiefebenen an Feiertagen auftrugen. Es handelte sich um ein Erbstück ihrer Urgroßmutter, die bei ihrer Hochzeit ebenfalls bereits schwanger gewesen war. Der Bund befand sich unter den Achseln, es verlieh seiner Trägerin eine Form, die an einen Kegel erinnerte. Dadurch war dem Standesbeamten im Hietzinger Rathaus Therezas Zustand verborgen geblieben. Während der Fahrt lockerte Thereza die Rubina - wobei es sich um eine grüne Schürze handelte, die an der Seite gebunden wurde. Es sah aus, als verschaffte sie damit dem Kind und sich Luft zum Atmen - bei der eisigen Atmosphäre, die im Wageninnern herrschte!

Meiner Mutter entging keine ihrer Bewegungen.

„Wir hätten ja auch zu Fuß gehen können!“, sagte  sie nach einer Weile betretenen Schweigens. »Dass du einfach immer den Weg des geringsten Widerstandes gehen musst! Wie dein Vater!« Sie wischte sich Tränen des Zorns aus den Augen, die sie den ganzen Vormittag mit größter Beherrschung zurückgehalten hatte.

Ich streichelte über Therezas Bauch und küsste sie auf den Mund. „Auf keinen Fall, Mama“, sagte ich. „Auf gar keinen Fall! Meine Frau soll es schließlich einmal besser haben, als du es an Vaters Seite gehabt hast!“

Mutter ließ daraufhin die Zigarette fallen und zertrat die Glut mit ihren hochhackigen Schuhen.

Sie sagte kein einziges Wort mehr an diesem Tag.

 

 

Zum ersten Mal habe ich Thereza an der Wiener Akademie der Künste gesehen.

Einer der Studenten legte Kohlen in den Kanonenofen. Ich fror. Um meine Mutter zu beruhigen, habe ich mich für ein Studium der Rechte eingeschrieben. Schließlich sollte ich es irgendwann einmal besser haben!, hatte meine Mutter mich beschworen. Sie hat Vater niemals verziehen, dass er in der Fabrik gearbeitet hat und Mitglied bei der Gewerkschaft gewesen ist. Irgendwann wollte ich zu einer Vorlesung gehen - ihr den Gefallen tun. Wenn ich jemals die Lust nach Jus verspüren sollte! Bis dahin verdiente ich Geld, indem ich den Kunststudenten Modell stand. Mein Freund Wolf hatte mich auf die Idee gebracht. Die Studenten skizzierten meinen Körper mit Kohle und Blei oder malten in Öl. Frauen waren im vergangenen Herbst zum ersten Mal zum Studium zugelassen worden. Die Kommilitonen verwehrten ihnen jedoch mit Erfolg den Zugang zum Aktmalsaal. Wolf rauchte eine Zigarette. Er trug eine Augenklappe. Er war der Älteste unter uns. Er hatte sich im Krieg einem bayerischen Regiment in den Schlachten gegen die Franzosen angedient. Jetzt hauste Wolf in einem Männerwohnheim in der Sechshauserstraße. „Das Frontschwein“, pflegte er zu sagen, wenn er getrunken hatte, „hat die Männer nicht in die Knie gezwungen!“ Wäre es nach ihm gegangen, hätte der Krieg ewig weitergehen können. Er gab den Bürokraten und Politikern die Schuld an der Niederlage, die unserem Vaterland beigebracht worden war. - Nach fünfundzwanzig Minuten erlöste Wolf mich heute aus meiner künstlichen Starre. Ich spürte jeden Knochen. Er klatschte in die Hände.

„Jetzt im Sitzen!“, rief er.

Ich schüttelte meine Arme und Beine und setzte mich auf den Boden. Stand- und Spielbein hatten für heute ausgedient. Dienstags und donnerstags trainierte ich in einem Gewichtheberclub in Ottakring. Wolf nahm mit jedes Mal mit. Das musste reichen! Von Kunst hatte ich keine Ahnung. Wolf hatte eine Tätowierung - einen Totenkopf, auf der Brust, den er mir unter der Dusche voll Stolz gezeigt hatte ...

Wolf lächelte mir zu.

Ich schlug die Beine übereinander, als Thereza den Raum betrat. Ich sah auf den ersten Blick, dass sie schwanger war; ihr Bauch war rund und weiblich!

Wolf schnippte seine Zigarette in eine Ecke. „Draußen bleiben, verdammt!“, schrie er. Er stellte sich schützend vor mich. Seine breiten Schultern ragten über mir auf.

»Frauen haben hier nichts verloren!«

Er besaß ein Organ, das Wände und Mauern zum Beben bringen konnte. Er prahlte damit, Unterricht bei einem Schauspieler genommen zu haben, um seiner Stimme mehr Ausdruck zu verleihen.

„Die Bedienerin soll auf der Stelle den Raum verlassen!“, schrie er, worauf der Putzkübel Therezas Händen entglitt. Die Lauge verteilte sich seezungengleich zwischen den Studierenden. Ich sprang auf. Thereza glotzte mich mit großen Augen an. Ihr Gesicht färbte sich rot.

Wolf bereute – das heißt: Der Künstler malt kreuz und quer über das Bild auf der Staffelei. Damit zerstörte er ein Werk, dessen er sich schämte! Thereza ließ den Schrubber fallen. Wolf stapfte durch die Schmierseife auf sie zu. Thereza wollte ausweichen und glitt über den Boden. Wolf bekam sie an einem Arm zu fassen. Er riss sie an den Haaren. „Raus mit dir, du Schlampe! Vaterlandsverräterin ...“

Einem der Kunststudenten rann an einem Speichelfaden Kautabak von den Mundwinkeln vor Verblüffung. Thereza versuchte, sich aus Wolfs Griff loszureißen. Sie sprach in ihrer Heimatsprache. Ich habe später erfahren, dass Thereza erst nach dem Krieg mit ihrer Familie nach Wien gekommen ist.

„Eine Schande für unser Vaterland!“, knurrte Wolf - und: „Frauen haben hier nichts verloren ...“

Wolf stieß seine Faust gegen ihre Brust. Ich versuchte, Thereza aufzufangen. Wir stürzten beide - wie Marionettenpuppen. Die Seifenlauge färbte sich rot. Ich sah das Blut an Therezas Schürze. Zum ersten Mal schaute ich in ihre Augen, die blankes Entsetzen widerspiegelten. – Es waren Augen von einem kräftigen Blau, wie im September - an einem Altweibersommertag.

„Bring sie weg!“, schrie Wolf. „Dieses Verrätergesindel aus den Kronländern hat hier nichts verloren!“

Ich redete beruhigend auf sie ein. Die Art und Weise, wie Thereza ihre Hände in die meinen legte, ihre Lippen, die sich bewegten, als wollten sie mir ein Geheimnis zuflüstern, ließen mich Wolfs Zorn vergessen.

„Ich bring sie nach draußen“, antwortete ich.

Wie oft im Leben gibt es diese Gelegenheiten, in denen zwei Menschen einander verstehen – ohne dieselbe Sprache zu sprechen? Ich schlüpfte hinter dem Paravent in meine Kleider.

„Komm zurück!?“, schrie Wolf. „Wenn du jetzt gehst ... dann ... dann ...“

Ich trug Thereza in meinen Armen auf den Flur hinaus.

In seiner Bude hatte Wolf einen Notenbogen gefunden, den ein unbekannter Vormieter unter der Matratze vergessen hatte: „Fremde Völker unterworfen – Germania – deine Söhne, in ewiger Treue zu Dir …“ Er fühlte sich seelenverwandt mit dem Mann, der diesen Schund verfasst hatte – der sich nach einer missglückten Wagner-Oper angehörte.

Ich hörte Wolfs Flüche und Verwünschungen hinter meinem Rücken. Wolf gab einem serbischen Geheimbund die Schuld am Attentat auf den österreichischen Thronfolger  jenes Attentat in Sarajewo, nach dem der Krieg ausgebrochen war ... Therezas slawische Gesichtszüge verrieten ihm wohl ihre Abstammung. Wolf hat sie von Anfang an gehasst! Ohne je auch nur ein Wort mit ihr gesprochen zu haben! Thereza stand zwischen uns. Der Krieg war für Wolf eine Angelegenheit, die er noch lange nicht als erledigt betrachtete. Die grauenhaften Arien seines Vormieters sprachen ihm aus der Seele. Dementsprechend hallten seine Flüche in den Fluren der Fakultät wider.

„Es gibt nur eine Strafe für Untreue, Kamerad!“, schrie er.

Das Tor der Fakultät stand offen. Ich ignorierte Wolfs Schreie und trug Thereza am ehemaligen Reichsgericht vorbei. In der Kälte des Jännermorgens verwandelte sich unser Atem zu Eiswolken. Thereza redete in ihrer Muttersprache auf mich ein. Sie wusste nicht, wie ihr geschah, vermutete ich!

Vor der Ordination eines Wehdoktors, am Getreidemarkt, stellte ich sie zum ersten Mal auf ihre Füße. Mit letzter Kraft trug ich sie die Stiegen in den dritten Stock hinauf.

Wir betraten die Ordination ohne Anklopfen.

Der Arzt stand über eine Kiste mit Kaninchen gebeugt.

Er durchschaute unser Problem auf den ersten Blick durch seine Hornbrille.

„Keine Angst“, sagte er, noch ehe wir unser Anliegen vorgetragen hatten. Sein Gesicht hatte Ähnlichkeit mit dem eines Boxers, der zu viele Prügel eingesteckt hatte. „Ich kann Ihnen helfen“, nahm er sich unserer Sache an. „Eine Drahtschlinge bringt den gewünschten Erfolg. Und Sie sind Ihr Problem ein für allemal los.“

Er versicherte uns, die Methode an einigen Hundert Kaninchen ausprobiert zu haben, während er eines der Tiere streichelte und mit Salat fütterte.

„Diese Frau passt ohnehin nicht zu Ihnen, mein Herr“, schloss er seine Ausführungen und nickte mir zu. Sein Gesichtsausdruck schien mir sagen zu wollen: Keine Sorge, junger Freund, jeder macht mal einen Fehler, schließlich waren wir alle mal jung ...

Er trug Orden eines österreichischen Regiments auf seinem Kittel, dessen Ärmel vor Schmutz standen. Durch seine Augengläser maß er Thereza, als gehöre sie zu den vielen, die ansteckender Schwindsucht leiden, seit die Wirtschaftskrise über das Land hereingebrochen ist.

Thereza klammerte sich an mir fest wie ein Kind. Zweifellos spürte sie die Gefahr, die von diesem Quacksalber für Leib und Leben ihres Ungeborenen ausging.

Sie schob mich in Richtung der Tür.

„Wir haben es uns überlegt“, antwortete ich.

„Was?“ Unmut ließ sein Boxergesicht plötzlich unbarmherzig aussehen – wie vor dem finalen Schlag in der letzten Runde, wenn die Glocke die Runde vorzeitig beendet ...

„Wir wollen unser Kind behalten.“

Er grinste und betrachtete er die Flecken auf Therezas Kleid.

„Gehört diese Frau wirklich zu Ihnen? –Wie heißt sie denn?“

Ich bezweifelte in diesem Moment, dass die Frau, die ich in die Ordination dieses Kurpfuschers verschleppt hatte, Papiere besaß, mit denen sie sich ausweisen konnte. Obendrein hatte ich vergessen, Thereza nach ihrem Namen zu fragen.

Ich versuchte es mir einem Schmäh. „Untersuchen Sie jetzt meine Verlobte, Herr Obermedizinalrat!“, sagte ich. „Alles andere wird das Geld richten!“

Ich blickte auf die Kaninchen, die sich an einem Kohlsalat gütlich taten. Die Einrichtung der Ordination bestand aus einem Sekretär, auf dem sich ausgefranste, in Leder eingebundene Bücher stapelten. Unter der Bespannung des Wehstuhls trat Rosshaar hervor. In einer rostigen Nierenschale lagen Werkzeuge in einer Lösung, bei der es sich anscheinend um Alkohol handelte.

Der Kurpfuscher schluckte meinen Köder. „Wie viel können Sie denn bezahlen, mein Herr?“ Die Wirtschaftskrise hatte in uns allen die Gier entfacht!

Ich zog ein Taschentuch hervor, in das ich mein letztes Bargeld eingeschlagen, hatte und ließ die Münzen über den Sekretär rollen. Ich küsste Thereza auf die Stirn. Sie ließ es geschehen. Ihr Haar verströmte einen betörenden Duft, wie ich ihn lange nicht gerochen habe!

Der Kurpfuscher wischte sich die Hände an seinem Kittel ab. „Mal sehen, was ich für Sie tun kann, gnädiger Herr.“ Und krempelte seine Ärmel hoch. Er rief nach einer Gehilfin, die mich aus dem Behandlungsraum hinaus komplimentierte. Sie verbot mir, die Behandlung zu stören. Ich ließ mich auf einem Fauteuil nieder, der auch schon bessere Zeiten gesehen hatte, und zündete mir eine Zigarette an. Mir fiel Wolf ein – die Augenklappe, die er trug, um seinem Aussehen einen verwegenen Ausdruck zu verleihen, der Totenkopf auf seiner Brust. Manche Dinge scheinen bei näherer Betrachtung anders, dachte ich, und hoffte, dass der Frauenarzt mehr von seinem Fach verstand, als die Einrichtung seiner Ordination es vermuten ließ. In Gedanken versuchte, ich mir auch eine Rechtfertigung für Wolf zurechtzulegen - eine Entschuldigung für mein Verhalten. Wolf hasste Untreue und Verrat! Ich verdantke ihm immerhin die Anstellung in der Fakultät, in Zeiten, in denen viele nicht einmal von ihrer Arbeit an den Fließbändern leben konnten ...

In späteren Zeiten, nachdem die Wirtschaft einen Aufschwung genommen hatte, habe ich von diesem Gynäkologen in den Zeitungen gelesen. Der Gewerkschaften waren gerade verboten worden! Meine Mutter hätte sich darüber gefreut - sie hat meinem Vater seine Mitgliedschaft nie verziehen. Und Wolf hätte sich erst gefreut! Er gab dem Bolschewismus und den Juden die Schuld an der Misere, in der wir steckten! Der Gynäkologe probierte zu dieser Zeit seine Methode mit der Drahtschlinge an Hunderten von Menschen aus.

An diesem Tag, jedenfalls – hat er Thereza und ihrem ungeborenen Kind das Leben gerettet, und ich dankte ihm dafür.

 

Mit den restlichen Münzen leisteten wir uns ein Billett für die Straßenbahn nach Meidling. Dort wohnte Thereza mit ihrer Familie in einer der Mietzinskasernen für die Arbeiter. Der Stuck an den Wänden war bis zur Unkenntlichkeit zerbröckelt. Früher hatten reiche Leute darin gewohnt.

Der Arzt hatte Thereza Bettruhe verordnet. Er hatte ihr verboten, weite Strecken zu gehen. Jede Anstrengung konnte eine erneute Blutung zur Folge haben, ermahnte er uns. Ich wollte Thereza hinauftragen.

Thereza verbot mir, sie zu ihrer Familie begleiten. Sie ließ sich um keinen Preis von mir umstimmen!

„Wann sehen wir uns wieder?“, fragte ich zum Abschied.

Ich seufzte. Ich spürte Gänsehaut an meinen Armen und im Nacken. Ich hatte meinen Wintermantel in der Fakultät zurückgelassen. Es schien mir, als hinge mein ganzes restliches Lebenglück von Therezas Antwort ab. Therezas Unglück bestand darin, dass der Vater des Kindes an der spanischen Influenza gestorben war, erzählte sie mir bei einem späteren Treffen. Kurz darauf habe ich ihr einen Heiratsantrag gemacht. Bei unserer ersten Begegnung schämte sie sich, mit der Wahrheit herauszurücken. Sie küsste mich und löste sich aus meiner Umarmung.

Sie drehte sich ein letztes Mal nach mir um und warf mir eine Kusshand zu. Dann verschwand sie in der Haustür.

Wir haben im Mai geheiratet.

 

Die Hebamme, die Thereza untersucht hatte, machte ein sorgenvolles Gesicht. Es war inzwischen Juni geworden.

„Ich habe es immer gewusst, dass es kein gutes Ende nehmen wird“, sagte meine Mutter und zündete sich an der verglimmenden Zigarette bereits die nächste an. „Diese Menschen aus den Kronländern haben uns kein Glück gebracht. Erst der Krieg! Dann die Armut! Und jetzt das! Es ist ein Fluch! Wie konntest du nur?“

Die Hebamme riet mir, mit Thereza zu schlafen.

Meine Mutter maß die Hebamme mit einem Blick, als wollte sie sie auf der Stelle erwürgen. Die Hebamme verabschiedete sich. Thereza und ich zogen uns zurück ins Kabinett, in dem wir seit unserer Hochzeit residierten. Wir schliefen in einer Pritsche, die eigentlich für eine einzelne Person gedacht war. Meine Mutter hatte unsere Betten verkauft, und mit dem Geld Butter und Kartoffeln von einem Bauern erstanden. Bei der Pritsche handelte es sich um unser ehemaliges Gästebett. Seit die Wirtschaftsmisere begonnen hatte, verkaufte Mutter bevorzugt Möbelstücke, die mein Vater mit in die Ehe gebracht hat. Es war ihre Art, sich für ein Leben in Armut zu revanchieren. Immerhin hat sie auch posthum niemals damit aufgehört, Vater daran die Schuld zu geben. Am liebsten hätte sie ihm wohl auch noch seinen Tod vorgeworfen! Mutter schlief seither auf einem alten Kanapee, das sich nicht verkaufen ließ, weil bereits das Holz durch den Bezug sah.

Thereza entledigte sich ihres Nachthemdes. Der Gynäkologe hatte verboten, dass wir uns in der Schwangerschaft wie Mann und Frau näherten. Es war also unser erstes Mal! Unsere Hochzeitsnacht, die wir in diesen Stunden nachholten ...

Später lagen wir im Zustand der Erschöpfung nebeneinander.

„Wie geht es dir, meine geliebte Seele?“, fragte ich.

Sie blickte an mir vorbei und erzählte mir von einem Haus: Es handelte sich um eine Villa unterhalb des Rothschild`schen Spitals am Rosenhügel. Im Krieg hatten wir Buben für die Soldaten, die im Lainzer Lazarett und im Rothschild`schen Spital verwundet lagen, Brot gesammelt. Wir waren im angrenzenden Wald aus Kiefern, Birken und Fichten herumgestreunt und hatten uns Schlachten geliefert. Daher kannte ich die Gegend wie meine Westentasche. Daher kannte ich das Haus.

Bei unserem ersten Rendezvous hatte Thereza mich zu dem Haus geführt. Efeu rankte wie immer um die Mauern. Gestein bröckelte vom Verputz, als leide das Gebäude unter dem Einfluss eines Gewächses, das Fenster und Türen umschlang wie ein Geflecht aus Schiffstauen. Findlinge, in einem Kreis aufgeschichtet, erinnerten an einen Brunnen, in deren Mitte eine Skulptur thronte. Es handelte sich um einen Wolf, dem der Kopf abgehackt worden war. Eine Steintaube entwich dem Hals. Damals habe ich nichts begriffen von Therezas Faszination für die Skulptur.

Jetzt umschlang sie mich mit ihren Armen. Wir schliefen ein zweites Mal miteinander. Nach dem dritten Mal schlummerte ich neben ihr ein.

Eine Stunde später erwachte ich durch Therezas Schreie.

Sie krümmte sich, biss sich auf die Lippen. Blut troff von ihren Mundwinkeln. Der Rat der Hebamme zeigte Wirkung: Die Wehen hatten eingesetzt! Ich sprang aus dem Bett, schlüpfte in meine Kleider. Meine Mutter stürzte, eine Zigarette in der Hand, im selben Moment, durch die Tür.

Ein fleischfarbener Wasserschwall ergoss sich über die Laken.

„Was hast Du nun schon wieder gemacht?“, sagte meine Mutter. „Habe ich dir nicht von Anfang an gesagt, du sollst die Finger von der Hexe lassen?“

„Mama, verstehst du denn nicht, die Frau, die ich liebe – sie bekommt ein Kind? Unser Kind!“

Wir standen Ellbogen an Ellbogen. „Dann hol die Hebamme zurück, wenn du dir so sicher bist. Na los, worauf wartest du? Elender Lügner!“

Eine Viertelstunde später kam ich mit der Hebamme zurück. Meine Mutter hatte frische Laken unter Thereza ausgebreitet. Thereza verlor Kot, den Mutter wegwischte. Im Krieg hatte sie im Lainzer Lazarett die Verwundeten gepflegt, bis zu dem Tag, an dem die Nachricht uns erreichte, dass mein Vater bei Verdun auf dem Feld der Ehre gefallen sei. An dem Tag hatte sie ihren Dienst quittiert. Sie hatte begonnen, alles, was an Vater erinnerte, auf dem Schwarzmarkt zu Geld zu machen ...

„Freust du dich denn gar nicht?“, fragte ich.

Meine Mutter schob mich nach draußen. „Na los, verschwinde schon aus der Kammer! Du hast schon genug angerichtet! Wie dein Vater.“

Sie hatte Wasser in der Küche aus einem Spirituskocher, der uns noch geblieben war, erhitzt. Überall lagen Tücher herum. Auf einer Kommode stand eine Schüssel.

„Dein Vater hätte etwas anderes gewollt“, sagte sie schließlich, bevor sie mir die Tür zum Kabinett vor der Nase zuschlug.

Ich erinnere mich an die Tapete im Wohnzimmer: schwarze Primeln. Niemals zuvor habe ich die Monotonie der Wände körperlicher empfunden wie in diesen Stunden des bangen Wartens.

„Das Kindergebären ist Frauensache!“, hörte ich meine Mutter von drinnen. „Welcher Mann würde das schon aushalten?“

Ich habe eine Zigarette nach der anderen geraucht in dieser Nacht. Und jedes Gebet, an das ich mich aus meiner Kindheit erinnere, gesprochen. Meine Sinne waren wie benebelt. Ich lag auf Mutters Kanapee, kämpfte gegen die Müdigkeit in meinen Knochen, als der Morgen graute. Der Gesang der Vögel hallte durch die offenen Fenster herein. Therezas Schreie hatten sich längst in ein Wimmern verwandelt, das kaum durch die Tür drang. Meine Lunge schmerzte vom Rauch der Zigaretten.

Totenstille herrschte. Kein Geräusch drang aus dem Kabinett.

„Was ist los, Mama?“, fragte ich.

Sie trat zu mir. Wich meinem Blick aus.

Und sagte kein Wort.

„Ich habe dich etwas gefragt ...“, wiederholte ich und trat gegen die Tür.

Thereza bewegte sich kaum merklich. Ihre Züge sahen aus, als bestünde die Schicht, die ihren Körper umgab, aus Paraffinwachs. - Eine erloschene Kerze mag einen ähnlich trostlosen Anblick bieten, wie ein Mensch, aus dem das Leben schwindet ... Die Hebamme hielt in ihren Händen ein Bündel, das keinen Laut von sich gab. Ich ignorierte es und kniete an Therezas Seite nieder, ergriff ihre Hände. Ihre Haut fühlte sich kaltschweißig an, ihre Muskeln schlaff, wie eine Puppe. Thereza lächelte.

„Ich liebe dich! Geh nicht von mir“, hörte ich meine Stimme – wie aus weiter Ferne ...

Tränen bildeten sich in ihren Augen, die mehr denn je aussahen wie dunkelblaue Seen – wie der Himmel im September – der sich im Gewässer widerspiegelt! Jetzt – in ihren letzten Atemzügen, hat sie mir den Namen des Kindsvaters verraten.

„Liebst du ihn mehr als mich?“, fragte ich, und anstelle einer Antwort sprach sie wieder von dem Haus und der Skulptur des Wolfes und der Taube ...

Thereza empfand Mitleid mit mir; ich sah es in ihren Augen. Sie hatte die einzige Wahrheit gesagt, die es gab. Die einzige. Die ...

„Warum hast du mich geheiratet?“

Sie antwortete mit schwacher Stimme und dann versprach ich ihr, den Bewohnern des Hauses einen Besuch abzustatten. Ich tat es allein aus dem Grund, weil es Unglück bringt, einer Sterbenden einen Wunsch abzuschlagen, habe ich mir einzureden versucht. Ich habe sie in diesem Moment gehasst! Ich tat es aus Verzweiflung.

Und aus Liebe.

 

 

„Der Geist der Toten lebt in ihren Werken“, sagte Wolf.

Ich hatte bei ihm, in der Sechshauserstraße, übernachtet. Wolf versuchte auf einem Klavier die Lieder zu spielen, die sein Vormieter ihm hinterlassen hatte. Er weigerte sich beharrlich, einen Klavierstimmer kommen zu lassen.

Wolf legte sich auf einen Fauteuil, eine Flasche Brandwein im Arm – wie eine Geliebte – während ich mich anzog. Er hatte mir sein Bett angeboten und selbst auf dem Fauteuil übernachtet.

„Ist es nicht so?“ Er setzte seine Lippen zärtlich an die Flasche an und trank.

»Ich habe dich schon lange nicht mehr gemalt«, sagte er, während er beobachtete, wie ich in meine Kleider schlüpfte.

Alles in mir sträubte sich dagegen, ihm recht zu geben. »Ich habe nicht viel Zeit gehabt, in letzter Zeit«, antwortete ich. Ich war gekommen, weil ich seine Hilfe brauchte, wenn ich das Versprechen, das ich Thereza in ihrem Sterben gegeben hatte, einlösen wollte.

Allein Wolf war dazu in der Lage, mir zu helfen.

„Du hast recht“, sagte ich schließlich. „In ihren Taten und Werken und Bildern ... leben die Toten weiter.“

Ich ging vor ihm in die Hocke.

Er blies mir den Rauch einer Zigarette ins Gesicht. „Wusste ich doch, dass du zur Vernunft kommen würdest. Einen Kameraden lässt man nicht einfach für eine Frau im Stich!“

Ich stand auf, drückte eine Taste auf dem Klavier und spürte Gänsehaut.

„Es ist die Aufgabe der Überlebenden, zu Ende zu bringen, was die Toten begonnen haben“, sagte Wolf und hämmerte mir beiden Händen in die Tasten.

Ich nickte. „Es ist unsere heilige Pflicht“, stimmte ich ihm zu.

Er sah mich an, als habe ich unrechtmäßig Geld von ihm zurückgefordert. Wohl durchschaute er meine Gedanken. Er nahm einen Schluck aus der Flasche. Ich erinnerte mich daran, dass ich ihm angeboten hatte, unser Trauzeuge zu sein. Wolf hatte abgelehnt. Ich hatte gewusst, dass er gekränkt reagierte, wenn ich ihm diese Ehre nicht wenigstens der Form halber anbot. Die kleine Hochzeitsgesellschaft hatte beim Heurigen „Zum Wambacher“ diniert – wo man auch den Kaiser früher manchmal gesehen hatte. Meine Mutter hatte darauf bestanden, obwohl wir es uns so gut wie gar nicht leisten konnten! Im Schatten hundertjähriger Laubbäume hatte Wolf mich den ganzen Abend über betrachtet. Ich hatte mich gefühlt wie ein Kind, das einen Fehler begeht! Wolf, mein Herr und Meister, der bereitsteht, mir die Hand zu reichen um mich zu retten ...

Thereza hatte sich vor seinem Blick gefürchtet.

„War es wenigstens schön, mein Freund?“, fragte er jetzt.

„Was?“

Er vollführte eine obszöne Geste. Grinste. »Der Verrat am Vaterland, natürlich! Was hast du gedacht? Hast du geglaubt, es bringt Glück, mit einer Flitsche herumzuhuren! Sie sogar zu heiraten! – Und das Reich, für das deine Väter gekämpft haben, zu verraten ...«

„Es reicht!“ Ich packte ihn am Kragen und warf ihn zu Boden. Ich tat es um Therezas willen! Selten war ich klarer bei Verstand. Wolf landete neben dem Instrument.

Er lachte. „Geh nur!“

Ich ging zur Tür.

„Ohne mich bist du sowieso nichts wert! Du wirst schon sehen, was du davon hast. Eine Mann ist nur so viel wert wie seine Kompanie, wie seine Freunde ... elender Vaterlandsverräter!“

Seine Augenklappe war verrutscht. Sein Hemd stand offen. Ich sah den Totenkopf und empfand Wut auf mich selbst. Wie hatte ich nur auf die Idee kommen können, von allen Menschen auf dieser Welt, ausgerechnet ihn um Hilfe zu bitten?

Ich habe ihn für meinen Freund gehalten.

 

Das Kreuz mit der Aufschrift „Ober-St.-Veiter-Friedhof, erreichtet 1876“ schwankte im Sturm, dass es aussah, als zuckte der Leib des Gekreuzigten in der Eiseskälte.

Wolf fand mich auf dem Friedhof. Ich stand vor dem Beinhaus.

„Wusste ich doch, dass ich dich nicht alleine lassen kann, mein Freund“, sagte er. Er war mir im Abstand von einer Viertelstunde gefolgt. Ich fragte mich nicht einmal, warum ich mich nicht geringsten wunderte darüber. Er war mit gefolgt! Und ein Teil in mir hatte mit nichts anderem gerechnet ...

Wir sahen uns in die Augen und nickten uns zu.

Er öffnete die Tür zum Beinhaus mit einem Draht. Therezas Sarg stand leer. Ich wollte das Stroh durchwühlen. Vielleicht handelte es sich um einen Trick! Vielleicht lag sie darunter versteckt ... Wolf versuchte, mich von meinem Vorhaben abzubringen.

„Hat sie dir nicht selbst gesagt, dass genau das geschehen würde?“, fragte er.

Er hielt alles noch immer für eine Schnapsidee. Und doch hing mein Seelenheil davon ab – genauer: Therezas Seelenheil, für das ich bereit war, alles zu geben – und sei es das eigene Leben!

„Dann geh!“, sagte ich – und: „Wer ist jetzt der Verräter, mein Freund?“ Ich kannte seine Antwort im Voraus.

Wolf sagte: „Ehre und Treue sind ein und dasselbe. Ich werde es dir beweisen!“

Er schloss mich in seine starken Arme. Damit erübrigte sich jede weitere Diskussion.

»Männerfreundschaften überstehen Kriege und Frauen, nicht wahr, Kamerad«, sagte ich. Ich wusste, dass ich mich auf ihn verlassen konnte. Nur ein Geisteskranker mit einer Augenklappe würde sich auf ein derartiges Unterfangen einlassen ...

„Ich kann dich doch nicht alleine in dein Verderben laufenlassen“, sagte er.

Sein freies Auge leuchtete wie ein einzelner Stern.

 

Zwei Stunden später blieben unter einer Laterne stehen. Wir beobachteten die Lichter des Hauses, die eins nach dem anderen erloschen.

Es regnete. Ich unterdrückte meinen Husten.

Die Schwester des Malers machte uns auf. Sie sah aus, wie Thereza sie beschrieben hatte. Im Krieg hatte sie gehungert, seit seinem Ende unterzog sie sich einer Abmagerungskur nach der anderen. Ihre Nase stach aus dem Gesicht hervor, was ihm einen zu markanten Ausdruck für eine Frau verlieh – für meinen Geschmack jedenfalls!

„Wer sind Sie?“, fragte sie.

Sie hatte gewusst, dass irgendwann jemand vor ihrer Tür stehen würde – in dieser Angelegenheit. Das Entsetzen in ihrem Gesicht verriet es mir. Sie musterte uns mit Verachtung in ihren Augen, besonders Wolf schien ihr Missfallen zu erregen.

„Bitte gehen Sie!“

Ich blickte über ihre Schulter hinweg in einen dunklen Flur. „Wie Sie wünschen.“

Wir wandten uns ab. Die Tür fiel hinter uns ins Schloss. Wir trotteten die Gasse hinunter. Die Laubbäume bewegten sich im Wind. Ich hielt den Atem an, wagte nicht, mich umzudrehen. – Sicher hat sie uns durch den Spion beobachtet!

„Was bleibt uns anderes übrig?“, wehrte ich eine Viertelstunde später Wolfs Vorwürfe ab. Er hatte mir Dutzend Gründe vorgeschlagen, die dafür sprachen, die Frau zu überwältigen und Therezas Wunsch zu erfüllen.

Wir setzten uns auf eine Bank.

„Wenn sie uns erwischen, dann gehen wir ohnehin ins Gefängnis“, sagte er.

Er sog an seiner Zigarette. Seine Augenklappe verrutschte ständig. Ich fand ihn zum Lachen komisch. Es fiel mir schwer, mir vorzustellen, wie er bei Verdun in irgendwelchen Schützengräben gelegen hatte – Flakfeuer und Gas ausgeliefert. Im Krieg war wirklich nur sein Äußeres unverletzt geblieben!

„Wie kann man nur wegen eines Frauenzimmers dermaßen den Verstand verlieren?“, fragte er mich.

Die Schatten der Bäume und Häuser waren mit der Dunkelheit verschmolzen. Ich warf die letzte Zigarette, da sie sich mit Regen vollgesogen hatte - und damit un-rauchbar geworden war – weg. Wolf spuckte gegen einen Laternenmast. Es war die kälteste Juninacht seit Menschengedenken – zumindest hatte es auf mich den Anschein, als ob wir sogleich erfrieren sollten.

Wir näherten uns dem Haus ein zweites Mal – diesmal von hinten! Wolf hatte von einem Frontalangriff abgesehen. Die Fenster glichen Schießscharten, waren viel zu schmal, um einen Einstieg zu ermöglichen, überlegte ich. Efeu rankte an der Mauer entlang neben Milchglas, in dem das Mondlicht sich wie flüssiges Silber spiegelte. Ein Zaun aus Metallstreben umgab den Garten. Das Gras schien zuletzt vor einem Menschenalter zurechtgestutzt worden sein. Es glich einem Urwald aus Bärenklee, Disteln und Blumen, die sonst eher an Buchufern wachsen.

Wolf bildete mit den Händen eine Räuberleiter – ich setzte meinen Fuß hinein und erklomm die oberste Strebe des Zauns und sprang. Ich robbte wie eine Schlange durch Gras und Unkraut. Insekten suchten eine Behausung in meinen Kleidern und in meinen Körperhöhlen. Zu meiner Überraschung steckte ein Schlüssel im Schloss des Gartentors. Die Ernüchterung folgte auf den Schlag: Das Schloss war eingerostet, der Schlüssel ließ sich auch von innen nicht drehen.

Wolf fluchte, versuchte von außen das Tor aus seinen Angeln zu heben. Ich tat mein Bestes, indem ich an den Querstreben zog, bis meine Hände bluteten. Als aus einem der Fenster Licht drang, warf ich mich zu Boden. Ich zählte langsam bis zehn und öffnete die Augen. Das Licht war erloschen. Um mich herum nichts als Dunkelheit. Gemeinsam gelang es uns, – wieder eine Viertelstunde später, – das Tor aus seinen Angeln zu hieven.

Wolf klopfte mir auf die Schultern. „Soldat!“, sagte er voll Anerkennung.

Wir rannten zum Kellerfenster. Schlingpflanzen wucherten entlang der Gitter. Wolf löste es mit einem Ruck aus der Verankerung. Anschließend nahm er einen Stein und zerschlug die Scheibe. Er griff durch das zerbrochene Glas und öffnete. Ich dachte ein letztes Mal an Thereza – und stieg hinter Wolf in den finsteren Keller hinab.

Die Absolutheit der Finsternis glich dem Gefühl, das in mir herrschte, seit mein Engel Thereza von mir gegangen ist: Endgültig. Dunkel.

Wolf stieß gegen eine Flasche. Ein Regal wankte. Die Flasche zerbrach klirrend. Scherben knirschten unter unseren Stiefeln. Wolf fand einen Riegel an der Außenseite der Kellertür. Er schob ihn mit der Klinge seines Taschenmessers weg. Im Stiegenhaus herrschte Modergeruch, genau wie im Keller. Es handelte sich um hölzerne Treppenabsätze – wie Thereza es in ihren letzten Atemzügen beschrieben hatte –, über die wir traten. In einem fremden Haus – zur Orientierung die letzten Worte einer Sterbenden, die in mir widerhallten: Drei Stockwerke ... Das Atelier des Malers befand sich unter dem Dach. Schweiß- und Regentropfen perlten über meine Stirn. Jeder Tritt auf der Stiege verursachte ein Knarren, das bis in mein Innerstes vordrang. Mein Herz schlug bis zum Hals, als wir den obersten Stock endlich erreicht hatten. Ich drehte mich ständig um und blickte über meine Schulter.

„Willst du hier übernachten?“, fragte Wolf auf mein Zögern hin. Wir standen vor der Tür zum Atelier.

Ich griff nach dem Schlüssel in meiner Manteltasche. Thereza hatte ihn mir in ihren letzten Zügen anvertraut. Der Schlüssel passte, wie versprochen! Die Tür ging nach innen auf. Der Geruch von Öl und Petroleum schlug uns entgegen – wie das Aphrodisiakum eines Malers, der von seiner Muse geküsst wird! Mit einem Streichholz entzündete Wolf eine Kerze. In Dutzenden von Stellagen standen Farbtöpfe. Leinwände lehnten an den Wänden, bemalt mit Farben und Strichen – mit Bildern, die ihr Schöpfer anscheinend tausendfach bereut und überpinselt hatte, so weit das Auge reichte. Hier war jemand, der sein Werk stets kritisch betrachtete, zu Gange gewesen.

„Was sagst du jetzt, Soldat?“

Wolf stand vor einer Staffelei. Ich erstarrte. Ich sah zwei Menschen. Etwas Düsteres haftete ihren Körpern an. Die Frau hatte ihre Beine gespreizt. Sie hielt einen Apfel in der Linken, den sie dem Mann zu ihrer Rechten reichte. Mit der anderen Hand hielt er sein Glied, als spielte er damit. Die Frau war schwanger. Ihr aufgeblähter Bauch wirkte jedoch, als wälzten sich unter der Haut riesige Schlangen. Ihre Augen sahen mich mit demselben Ausdruck an, wie Thereza Augen an jenem Tag, da ich sie gefragt hatte, wann wir uns wiedersehen würden. Diese tiefblauen Augen gehörten zu Thereza! Ich blickte in das Gesicht des Mannes, den ich nie zuvor gesehen hatte ...

„Ich habe gewusst, dass Sie sich nicht von mir abwimmeln lassen würden.“

Ich zuckte zusammen. Wolf trat auf die Frau zu. Sie trug ein Nachthemd und hielt eine Laterne in der Rechten. Der Schein hauchte den Figuren auf dem Gemälde Leben ein; es sah aus, als bewegten sie sich. Ich erinnerte mich an das Licht, vor dem ich mich ins Gras geworfen hatte. Die Züge der beiden Menschen regten sich im Spiel aus Licht und Schatten. Als wären sie es, uns betrachteten!

Die Frau zielte mit einer Pistole auf Wolf. „Es ist alles gesagt“, sagte sie. „Durch Ihr Eindringen haben Sie mir verraten, dass – sie – Sie geschickt hat. Ihr Schicksal hat sich mit ihrem Tod also endlich erfüllt, vermute ich.“

„Wessen Schicksal?“, fragte ich.

Schweißperlen glänzten auf Wolfs Stirn. „Ich bitte Sie, Madame, nehmen Sie die Waffe weg ...“

Ihr Arm zitterte.

„Sie haben gesehen, was Sie sehen wollten. Jetzt können Sie ebenso gut wieder gehen, meine Herren.“

Sie ließ die Waffe sinken, hing die Laterne an einen Nagel. Der Ausdruck auf Therezas Gesicht erstarrte.

„Sie werden wohl nicht lockerlassen, vermute ich“, fuhr sie fort und reichte mir ein Kuvert.

Das Papier fühlte sich rau an unter meinen Fingerspitzen. Ich beförderte ein einzelnes Blatt ans Licht. Die Schrift schien vor meinen Augen zu verschwimmen. Es handelte sich um ungelenke Buchstaben. Ich las mit zitternder Stimme:

 

„Eva reichte Adam die Frucht, obwohl Gott seinen Kindern verboten hatte, vom Baume der Erkenntnis zu naschen. Damit beginnt unsere Tragödie.“

 

„Was soll dieses Gewäsch?“, sagte Wolf.

Ich ließ den Arm sinken. Die Initialen ließen keinen Zweifel zu. Ich hatte über den Tod des Malers, in dessen Atelier wir standen, in den Zeitungen gelesen. In mir taten sich mehr Fragen auf als Antworten. „Was, um alles in der Welt, soll das bedeuten?“

„Es sind die Worte eines Untoten“, sagte die Frau.

„Es gibt keine Untoten“, sagte Wolf. „Das ist Aberglaube!“

„Solange es die Sterblichkeit gibt, gibt es auch Untote!“

„Das ist Schwachsinn!“

„Als er aus dem Krieg zurückgekehrt ist“, fuhr die Frau fort, „haben seine Freunde ihn nicht wiedererkannt. Ich bin seine Schwester. Können Sie sich vorstellen, wie groß mein Schmerz war? Er war zurückgekommen, aber er war ein anderer geworden. Ich hatte den Bruder verloren. Ich sah es in seinen Gemälden, die nur noch von Tod handelten. Er war nicht mehr am Leben, weil er nicht sterben konnte, nach alldem, was seine Augen gesehen hatten. Er war ein Untoter geworden. – Und dann kam dieses Mädchen. Es war in seinen letzten Wochen. Sie hat ihn geliebt! Sie war seine Muse. Und jetzt hat er sie mit sich gerissen. Erst seine Frau, die ihm in den Tod gefolgt ist. Und jetzt auch noch dieses Mädchen ... verdammt! – Er hat sie geholt! Verstehen Sie denn nicht ...“

Ich schüttelte den Kopf.

„Die Spanische Grippe“, erklärte sie. „Es gab keine Spanische Grippe nach dem Krieg hier in Wien. Und wenn es sie wirklich gab, wie die Zeitungen schrieben ... dann sind die wenigsten, an ihr verstorben. Auch er, mein Bruder, starb in einer Nacht. Genau wie seine Frau ... Als die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster fielen! Sie können nur in der Nacht leben. Das ist ihre Krankheit! – Sagen Sie mir schon, war es bei ihr nicht genauso?“

Sie fuhr fort, keinen Widerspruch duldend: „Sie werden uns bestrafen, weil wir am Leben sind. Weil wir im Licht des Tages leben! Dadurch betrachten sie uns Lebende als Verräter! Ihre Rache wird groß sein ...“

„Wie sollen Tote sich rächen können?“, sagte Wolf. „Ich habe so viele Leichen gesehen - im Niemandsland - zwischen den Fronten! Kein Leichnam hat sich jemals an einem Überlebenden gerächt ...“

Sie räusperte sich. „Ihre Rache kommt, wenn das alte Reich endgültig verloren ist - das Kaiserreich - und ...“

Ich schluckte. „Wann soll das sein?“

„Wenn das Geld keinen Wert mehr hat, dann versinkt das Reich für immer. - Wenn Hunger und Not über das Volk kommen ...“

Ich dachte an die Worte meiner Mutter – über das Geld, das ständig an Wert verlor.

Wolf fiel ihr ins Wort: „Hören Sie auf mit diesem Blödsinn! Wir stehen am Anfang eines neuen Zeitalters. – Nicht einmal der Dolchstoß, den diese Verräter uns hinterrücks zugefügt haben, vermag uns aufzuhalten! Der Krieg kommt – damit ein neues Reich sich wie Phönix aus der Asche erheben kann! Ein neues und reines Volk wird herrschen!“

„Da sehen Sie es“, sie blickte zu Wolf, „zu viele Untote, so wie Ihr Freund, sind aus dem Krieg zurückgekehrt. Und sie warten nur darauf, uns in ihr Reich zu verschleppen. Es wird ein Reich der Finsternis sein! Des Todes. Des Verderbens. – Es wird sein, wie die Vertreibung aus dem Paradies! Die Untoten sind bereits mitten unter uns. Und jetzt gehen Sie. Und lassen Sie mich in Frieden sterben!“, schloss sie ihre Prophezeiung. Ihre bedeuteten, sie hatte alles gesagt, was sie zu sagen gehabt hatte.

Ich verstand kein Wort. „Das sind alles Lügen!“, sagte ich. „Thereza ist jetzt ein Engel ...“ –  Und keine Untote!

„Dann gehen Sie auf den Friedhof – und sehen Sie selbst, dass Sie sich irren. Dass ich die Wahrheit spreche!“

„Worauf Sie sich verlassen können ...“

„Es ist spät“, sagte sie. „Sie werden sehen, wenn Sie ins Beinhaus gehen, dass ihr Leichnam wieder an Ort und Stelle liegt. Sie war heute Nacht hier – kurz vor ihnen. Ich sah sie draußen am Fenster, sie flog vor dem Haus auf und ab. Und jetzt nehmen Sie den Brief, den mein Bruder ihr hinterlassen hat. Und gehen Sie mir aus den Augen ...“

Ich hielt das Papier mit den Fingerspitzen – Therezas Vermächtnis – zugleich die letzten Worte des Malers an Thereza ... Die Wahrheit, die von Anfang an zwischen uns gestanden war! Verwesungsgestank stieg in meine Nase. Ich spürte Übelkeit.

„Was soll ich damit ...“

Sie hob die Schultern. „Machen Sie, was immer Sie wollen. Thereza hat ihnen niemals gehört, weil sie nicht von Ihrer Welt war, mein Herr. Es ist die Wahrheit – sie gehört jetzt zu ihnen.“ Sie zeigte in die Dunkelheit vor dem Fenster, als schwebten dort Bataillonen schattenhafter Armeen, zum Angriff bereit.

Sie bekreuzigte sich. „Gehen Sie, in Gottes Namen!“, sagte sie und lächelte. „Endlich ...

 

 

Wir liefen zum Ober-St.-Veiter-Friedhof zurück. Der Sturm hatte gewütet. Äste lagen über den Gräbern. Wolf öffnete die Tür zum Beinhaus erneut und Thereza lag in ihrem Sarg. Das blonde Haar umgab ihren Kopf, als hätte sie sich selbst gerade eben gekämmt; sie trug es offen.

„Was hast du vor?“, fragte Wolf.

Ich stieß ihn beiseite. Schrie aus Leibeskräften. Ich wollte kein Wort glauben. „Ich habe dich doch geliebt, mein Herz – meine Seele ... Wie kannst du zu ihm gehören?

Ich küsste ihr Gesicht. Ihre Haut fühlte sich an wie Fleisch. Ohne das geringste Anzeichen einer Totenstarre. Ich drückte den Brief zwischen ihre Hände. Ich hatte es ihr versprochen! Sie trug das Kleid, das sie zu unserer Hochzeit getragen hatte. In ihrem linken Arm lag das Bündel mit dem toten Kind. Es war ein Mädchen gewesen  – es besaß keinen Namen. Der Priester hatte das arme Geschöpf nicht getauft, weil es nicht am Leben gewesen war. Damit blieb dem armen Geschöpf nur ein Eselsgrab, außerhalb des Friedhofs, in ungeweihter Erde – wo die armen Sünder lagen, die der ewigen Verdammnis anheimfielen! Ich entdeckte Bissspuren an Therezas Hals und begriff: Thereza hatte die ganze Zeit gewusst, was ihr bevorstand! Sie hatte sich mir hingegeben, um mit ihm, – den sie aus ganzem Herzen liebte –, wieder vereint zu sein! Er war aus freien Zügen nicht gekommen, um sie zu erlösen. Er hatte sie nicht geliebt! – Niemals. Im Gegensatz zu mir! Sie hatte gewusst, dass sie die Geburt nicht überleben würde. Und deswegen hatte sie mich benutzt, damit ich mit ihr schliefe – und damit die Wehen auslöste, um damit das Unvermeidliche in Gang zu bringen.

Feine, weiße Knoblauchblüten lagen jetzt auf ihrem Kleid, über ihrem Haar, auf dem Kissen. Der Abdruck an ihrem Hals stammte ohne Zweifel von einem menschlichen Gebiss. Ich begriff: Die Untoten – oder all jene, denen der Krieg die Seele genommen hatte, hatten die Spanische Grippe als Vorwand genutzt, um sich mit den Menschen zu vereinen. Jene, die sie am meisten liebten, die von ihnen gegangen waren! Es hatte die Spanische Influenza in Wahrheit niemals gegeben! Das grauenhafte Sterben hatte eine andere Ursache gehabt. Die Schwester des Malers hatte recht! Mit jedem einzelnen Wort.

Thereza hatte mich benutzt, um ihm zu folgen – auf seinem Weg in die ewige Verdammnis. Sie war für ihn gestorben! Und er hatte sie geholt ...

Ich packte sie grob an ihrem Totenhemd.

„Lass das!“ Wolf ergriff mich an den Schultern.

Ich stieß ihn von mir. Er stürzte, sprang auf, näherte sich mir mit nach vorne gebeugtem Oberkörper. Eine Zeitlang hatte er in Ottakring zu einem Boxklub gehört, was mich jetzt nicht weiter beeindruckte. Die Schwester es Malers hatte auch über Wolf die Wahrheit gesagt: Mit seinem Gerede über den Dolchstoß hatte Wolf sich ohnehin längst verraten! Er gehörte zu ihnen ...

„Komm zur Vernunft! Du kannst sie nicht ins Leben zurückholen!“, sagte er.

Jedes seiner Worte verriet mir seine Lügen. „Du! Er! Ihr alle …“, ich rang nach Luft, „ihr alle habt sie umgebracht! Ihr habt sie zu einer Untoten gemacht, damit ihre Seele euch gehört – euch allein! Ihr habt sie mir weggenommen ...“

„Sie hat dir niemals gehört! Sie hat dich mit ihm betrogen. Und ich habe dich von Anfang an vor ihr gewarnt! - Ich habe als Einziger zu dir gehalten ...“

„Das ist alles eine Lüge!“ Ich bekam eine Spitzhacke zu fassen und schleuderte das Totengräberwerkzeug in eine Ecke. Ich ergriff ein Holzkreuz, das dazu diente, Grabsteine über Armengräbern zu ersetzen. Wolf wich zurück ...

„Du bist nicht bei Trost, Soldat!“

„Weiche von mir, Verräter!“

Unsere Ehre bedeutet Treue, denk´ daran ...“

Du bist der Verräter! Du und Deinesgleichen!“, schrie ich. „Die Männer, die aus dem Krieg zurückgekommen sind, sind Untote ...“

Er schrie: „Ich bin dein Freund! - Verstehst du nicht, ich würde alles für dich tun. - Mein Leben würde ich für dich geben. Ich habe für dich - und unser Volk, gekämpft ... an der Front! Bis diese Verräter gekommen sind - und uns den Dolchstoß verpasst haben!“

Sein einzelnes Auge schien mich zu durchbohren. Ich erinnerte mich des Totenkopfes auf seiner Brust - der Lieder, die sein Vormieter ihm hinterlassen hatte ... Seiner Blicke, mit denen er mich stets maß, als wäre es ein tiefer innerlicher Hunger, mit dem er seine Bilder von mir auf die Leinwand gebannt hatte!

Ich bereute, ihm jemals auch nur ein einziges Wort geglaubt zu haben ...

„Du wirst mich nicht kriegen!“, schrie ich.

Er trat auf mich zu. Ich hielt das Kreuz wie eine Waffe. Er verstand die Warnung nicht. Wollte sie nicht verstehen! Ich bohrte das Kreuz in seine Brust – genau in jene Stelle, in der sich unter dem Hemd der Totenkopf befand. Der Stoff färbte sich augenblicklich mit Blut. Er wich zurück, ergriff das Holz um die nackten Beine des Heilands. Röchelte. Seine Lippen formten einen Laut, der zu in einem Brodeln geriet. Er taumelte. Das Kreuz ragte aus seiner Brust ...

„Verzeih mir, mein Freund“, sagte ich.

Er sank zu Boden. Er blieb liegen. Regungslos.

„Es war der einzige Weg, dich von dem Bösen zu erlösen«, sagte sie. Meine Mutter hatte mich immer gewarnt! Vor Thereza - und vor dem Fluch, der aus den Kronländern kam. Dabei hatte ich nicht gemerkt, dass Wolf zu ihnen gehörte - zu den Untoten. Warum nur hatte ich nicht auf meine Mutter gehört?

Ich bekreuzigte mich und wandte mich Thereza zu.

Ihr Gesicht schien mir verändert, auf eine groteske Weise entstellt – wie auf dem Gemälde. Ein Hohnlachen lag über ihren Lippen – als habe sie unseren Kampf beobachtet! Und Gefallen an seinem Ausgang gefunden.

Der Gedanke ging mir in Fleisch und Blut über.

„Erlösung …“, flüsterte ich – mir schmerzendem Kehlkopf. „Erlösung ...“ Immer wieder.

Thereza hatte sich in einen Dämon verwandelt! Wie sonst hatte sie es geschafft, aus dem Beinhaus zu entfliehen und zurückzukehren? Ich war blind gewesen vor Liebe. Warum nur hatte ich nicht auf meine Mutter gehört? Ich hatte nicht. Ich hatte. Ich ... Der Maler hatte den Fluch über sie gebracht, er hatte auf dem Balkan gekämpft. – Der Fluch kam doch aus den Kronländern ... Dort hatte das Feuer begonnen zu brennen!

Es musste wohl ihre Familie gewesen sein, die darunter litt, dass aus ihrer Tochter ein Vampir geworden war. Ihre Familie hatte die Knoblauchblüten über sie gestreut. Aber sie hatte es nicht geschafft, zu Ende zu bringen, was ... ich aus der tiefsten Liebe meines Herzens in diesen Stunden vollbracht habe.

„Verzeih mir ...“, flüsterte ich und setzte eine Säge, ein weiteres Totengräberwerkzeug, an Therezas Hals an. In ihren letzten Zügen hatte Thereza von der Skulptur gesprochen. Erst jetzt erkannte ich den Sinn hinter ihren Worten: ihr verzweifeltes Flehen! Die Muskeln in meinem Arm und in meiner Brust verkrampften sich. Ich durchtrennte Zentimeter für Zentimeter des verfluchten Fleisches.

Ich sprach jedes Gebet, das mir einfiel, um vor allem ihn – den Dämon, dem sie gefolgt war, fernzuhalten! – Denn ich hatte das Gefühl, nicht allein zu sein! Ich drehte mich nach allen Seiten um. Durch den Schleier aus Schweiß über meinen Augen, sah ich die Wände und Fenster verschwommen. Ich stöhnte! Das Rauschen in meinen Ohren verwandelte ich in ein Dröhnen. Die Zähne der Säge fanden den Weg zwischen ihre Halswirbel. Einmal habe ich einem Onkel auf dem Land dabei geholfen, ein Kalb zu schlachten. Damals war ich noch ein Junge gewesen. Ich wünschte in dieser schweren Stunde, ich hätte ein Beil, um die Knochen zu durchtrennen! Damit wäre es wohl leichter gegangen. Kalter Schweiß rann über mein Gesicht, meinen Rücken, meine Brust.

Ich blickte zu Wolf. „Pro Patria!“, murmelte ich. „Für das Vaterland, mein Freund ...“ Und lachte, wenn ich an das Reich dachte, das mit dem Tod des Kaisers untergegangen war ...

Ich spürte Erleichterung nach getaner Arbeit und legte Therezas Kopf unter ihren rechten Arm. Ihre Zunge hing zwischen den Lippen hervor, als stöhnte sie.

„Mein Engel Thereza …“, murmelte ich.

Ich weinte. Die Wände verschluckten den Hall meiner Laute. Ich setzte mich neben den Sarg und rang nach Atem, als ein Geräusch mir in die Glieder fuhr. Ich sprang auf.

Er hatte mich die ganze Zeit beobachtet ...

Mein letzter Zweifel über diese Tatsache verschwand. Ich drehte den Kopf vorsichtig zum Fenster. Ich sah die Kreatur zum ersten Mal. Sie schwebte draußen auf und ab – hing in der Luft. Ich sah ihren Flügelschlag. Ich kann nicht sagen, wie lange sie bereits dort gelauert haben mochte. Ich begriff, auf welch´ ausweglosen Kampf ich mich eingelassen hatte.

Er war gekommen, um Thereza zu rächen! Kein Zweifel.

Der Schatten der Kreatur erschreckte mich durch ihre Schwärze. Im nächsten Moment durchbrachen Dutzende pelziger Säuger das Glas, wie ein Heer, das er mitgebracht hatte – aus dem Reich der ewigen Finsternis! Scherben prasselten hernieder. Der Schwarm der Fledermäuse stürzte sich auf mich. Ich spürte ihre Zähne überall an meinem Körper. – Ihr schmatzendes Geräusch ging mir durch alle Fasern meines Leibes. Ich schlug um mich. Krümmte mich wie ein Ungeborenes im Mutterleib, barg den Kopf unter den Armen. Die Tiere stießen schrille Laute aus, kannten keine Gnade. Die Scherben unter meinem Körper vibrierten unter ihren Lauten.

Ich schrie das Vaterunser im Himmel.

„Dein Reich komme ... In Ewigkeit ...“

Schwärze senkte sich über der Schwärze ... Mein Herz, sterblich, dem Tod geweiht von Anbeginn der Zeit, verkrampfte sich – lag kalt und leblos in meiner Brust – wie ein Stein! – während meine Schreie im Grabesecho zwischen den Mauern verhallten ...

... in Ewigkeit ... Amen ...

 

2

 

Zeitungsartikel, Dienstag, 14. Juni 1919

Zu einem moralisch höchst verwerflichen Falle von Vampirismus ist es in der Nacht vom Sonntag auf Montag im Beinhaus des Gottesackers zu Ober.-St.-Veit gekommen. Einer der Missetäter konnte bei lebendigem Leibe von der Gendarmerie gefasst werden. Seinen Kameraden hat er auf grausige Art und Weise mit einem hölzernen Kruzifix getötet. Es sah nach einer Pfählung aus. Bei der Vernehmung in der Hietzinger Wachstube musste ein Nervenarzt hinzugezogen werden. Der Überlebende war in seinen Antworten wirr. Die Leichenschändung einer Frau, die drei Tage zuvor eine Todgeburt erlitten hatte, erklärte er damit, dass er die Unglückliche habe erlösen wollen. Er wirkte höchst aufgebracht. An seinem Körper befanden sich winzige Bissmale. Der Vampirkult, bereits unter Kaiserin Maria Theresa per Gesetz verboten, findet seit dem Kriegsende wieder Anhänger, scheint es, in Wien. Der Verdächtige lag über der Grabstätte des Malers Egon Schiele, welcher für seine entarteten Kunstwerke eine traurige Berühmtheit erlangt hat, als schliefe er dort. Der Verdächtige wurde in die Anstalt für Irre Auf dem Steinhof gebracht, wo er bis zur Stunde unter der Beobachtung von Ärzten und Irrenpflegern steht.

 

3

 

Ärztlicher Dekurs – Anstalt für Irre auf dem Steinhof, Niederösterreich

Der Kranke spricht kein Wort. Als man mich holte, den Kranken zu begutachten, war ich zuerst abgeneigt, seine Zelle zu betreten. Ein grässlicher Gestank, der an Verwesung erinnert, schlug mir sofort entgegen. Er lag in einer Ecke der dunklen Zelle zusammengekauert, bewegte sich nicht. Die Pfleger zwingen ihn alle Heiligen Zeiten ins Bad, stutzen mit einem Rasiermesser sein Haar, das Ausmaße angenommen hat wie bei einem Wilden im fernen Amazonien. Er befindet sich seit sechs Monaten in nervenärztlicher Behandlung. Ein Anstaltsnachthemd lag in einer Ecke. Der Patient bewegte sich die meiste Zeit nackt durch seine Zelle, erzählte man mir. Die Nägel an seinen Händen und Füßen wachsen ungehindert. In einer Ecke liegen Papierbögen und Blei. Mein Blick fiel auf ein Bild, das oben auflag und sich offenbar noch in der Entstehung befand. Ich erkannte zwei Menschen darauf. Auf den ersten Blick meinte ich, es handelte sich um ein Motiv aus der Bibel: Adam und Eva. Dann sah ich, dass die Umgebung alles andere als ein Paradies war. Monströse Gestalten und Kanonen umgaben die beiden. Es sah aus wie eines der Schlachtfelder des Krieges, der hinter uns liegt. Die Vagina der Frau glich bei näherer Betrachtung einem Kruzifix. Das Genital des Mannes war ein spitzer Pfahl. Als ich nach den schriftlichen Aufzeichnungen greifen wollte, machte der Kranke einen Satz in meine Richtung. Ein grässlicher Aufschrei folgte. Ein Irrenpfleger schlug Alarm. Im Nu eilte ein halbes Dutzend Pfleger herbei, das den Kranken in seinem Bett festband. Ich kann seither nicht aufhören, mich mit jener seltsamen Geschichte zu beschäftigen. Ich nahm mir vor, dem Kranken so bald als möglich wieder einen Besuch abzustatten.

Drei Tage nach meinem Besuch ließ mich der Anstaltsleiter mitten in der Nacht holen: Die Zelle stand leer. Am Gitterfenster zeigten sich keine Spuren von Gewaltanwendung. Die Irrenwärter schworen Stein und Bein, sie hätten die ganze Nacht hindurch vor der verschlossenen Tür Wache gestanden. Es sei niemand durch die Tür hinaus oder hineingegangen. Man habe keinerlei verdächtiges Geräusch vernommen. Da wir die Gefahr, die von dem Kranken ausgeht, bis dato nicht einzuschätzen in der Lage sind, hatte der Anstaltsleiter die Gendarmerieposten verständigt. Ich betrat die Zelle, durch die das Mondlicht in dieser Nacht mit einer besonderen Intensität schien, hatte es auf mich den Anschein. Mein Blick fiel auf die Bilder. Ich nahm das inzwischen fertiggestellte Gemälde. Erstaunt über diese Metamorphose aus Eros und Tod, sah ich mich in meinen Gedanken, die mich seit dem Besuch des Kranken beschäftigt, bestätigt. Thatanos, der Gott des Todes und sein Gegenspieler, Eros, spiegeln sich in ein und denselben Verhaltensweisen des Menschen. Die Vertreibung der ersten Menschen aus dem Paradies versinnbildlicht, wie sehr die Sterblichkeit und das Triebverhalten die menschliche Seele beeinflussen. Sie sind Gegenspieler und sind doch ein und dasselbe, scheint es! Jeder Mensch strebt nach Unendlichkeit. Ich trat zum Fenster. Der Mond spiegelte sich in der goldenen Kuppel der Anstaltskirche.

Ich wollte gerade gehen, als ich ein Blatt Papier, das an seinen Rändern vergilbt bereits war, zu meinen Füßen entdeckte. Das Papier unterschied sich von dem, welches der Kranke benutzt hatte. Es handelte sich eindeutig um eine männliche Schrift, in denen ich die Züge eines jungen Mannes erkenne, dem Schlimmes widerfahren ist – vielleicht tausendfaches Sterben. So vielen ist in dieser Zeit tausendfaches Sterben widerfahren! Das Blatt war an den Seitenrändern voller Erde und eingetrocknetem Blut. Verwesungsgeruch haftete daran. Ich las:

 

Damit beginnt unsere Tragödie.

 

Wien, Oktober 1919, Berggasse 9, gez. S. Freud

 

Nachbemerkung

 

Der Vampirglaube war im 18. Jahrhundert weit verbreitet. In Mähren, Ungarn und auf dem Balken wurden zahlreiche Gräber geöffnet, um die sogenannten „Untoten“ zu pfählen oder zu enthaupten. Der Vampirkult hielt Einzug aus den Kronländern auch in der k.u.k.-Metropole Wien. Kaiserin Maria Theresia verbot per Gesetz die nächtlichen Umtriebe auf den Friedhöfen des Reiches. Der Vampirglaube hat sich in einigen Landstrichen, die einst auf österreichischem Terrain lagen, trotzdem bis in die heutige Zeit erhalten.

Sigmund Freud prägte seine Theorie vom Kampf zwischen Liebestrieb (Eros) und Todestrieb (Thatanos) in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg. Seine Theorie gilt heute als äußerst umstritten.

Egon Schiele avancierte nach dem Tod seines Freundes Gustav Klimt zum bedeutendsten Maler der Wiener Moderne. Er starb 1919 an der Spanischen Influenza. Sein Grab befindet sich auf dem Ober.-St.-Veiter-Friedhof. Ich liebe diesen Ort, an dem der Maler gemeinsam mit seiner Frau begraben liegt. Der Grabstein sticht dem Betrachter sofort ins Auge, weil er ein Bildnis von Adam und Eva darstellt. Die Bilder des Malers Egon Schiele haben mich zu dieser Erzählung inspiriert.

 

Michael Seitz, Wien, 17. August 2014

Eine Erzählung über Blutrache - nichts für schwache Nerven, erhältlich auf Amazon, Copyright 2015

 

Das Herz des Sizilianers

 

Erzählung

 

Michael Seitz

 

 

 

 

 

Im Jahre 1091, Castellammare del Golfo, sizilianische Küste, Mittelländisches Meer

 

Die Nachricht von dem Überfall durch die Piraten brachte ein Bote aus Scottopello. Gaetano Batini hielt die Nachricht des Reiters für maßlose Übertreibung. Die Schwester von Adolfo, dem Schuster in der Via Roma, bestätigte die Hiobsbotschaft am Morgen darauf. Ein Cousin des Schwagers einer ihrer Nichten in Palermo pflegte eine Freundschaft mit dem Bruder der Ehefrau des Bürgermeisters von Donnalucata. Dessen Enkelsohn Antonio hatte auf einem der Lastschiffe des Grafen Roger vor der Südseite der Insel angeheuert. Die Besatzung war auf hoher See den Piraten des Emirs zum Opfer gefallen. Antonio, der Enkelsohn des Bürgermeisters von Donnalucata, hatte sich mit einer Handvoll Gefährten auf einer Nussschale von einem Kahn in Sicherheit gebracht. Die Matrosen mieden den Hafen von Donnalucata, gingen fünf Tagesreisen westwärts an Land, erreichten die Küste vor Palermo mehr tot als lebendig. Die Schwester des Schusters von Castellammare del Golfo wollte dem Mann, der halbverhungert das Dorf erreichte, nicht glauben. Dann fiel ihr ein, dass sie Antonio bei der Hochzeitsfeier ihrer Schwägerin zweiten Grades in Catania gesehen hatte. Antonio hatte gerülpst und gefurzt wie der Vulkan, der wie eine graue Eminenz über dem Dorf stand, und derbe Späße mit den Jungfrauen von Santa Marina getrieben, wodurch er sich in den Augen der anderen Hochzeitsgäste die Exkommunikation verdient hätte.

An dem Tag, an dem die Nachricht vom Eintreffen des unliebsamen Verwandten Gaetano erreichte, stand er auf wie an jedem anderen. Die Kinder Stefano und Mario schliefen. Er hörte ihren Atem durch die Bretter des Obergeschosses, deren Holz sich in der Sommerhitze verformte. Zwischen den Ritzen sah er stets, was die Jungen anstellten, ehe sie endlich in den Schlaf des Gerechten fielen. Viel zu oft meldete sich seine Frau zu Wort, die den Jungen zurief, endlich Ruhe zu geben.

„Es sind doch Jungen!“, pflegte er dann zu sagen.

Der zehnjährige Stefano und der zwölfjährige Mario kicherten daraufhin wie Mädchen. Wenn sie endlich schliefen, sagte seine Frau in vorwurfsvollem Ton:

„Dass du mir aber auch immer in den Rücken fallen musst!“

Clara führte eine Litanei an Gründen auf, die dafür sprachen, ihre unterschiedlichen Erziehungsauffassungen nicht vor den Kindern auszutragen. Im Grunde seines Herzens verstand er sie. Und im Grunde seines Herzens verstand er auch die Jungen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr zuzustimmen – bis zu ihrer nächsten Meinungsverschiedenheit …

„Papa?“

Marios Stimme riss ihn aus seinem Grübeln. Er verschluckte sich an einer Weintraube, hustete. „Mario, du bist schon wach?“

Der Junge tappte die hölzernen Stufen herunter.

„Hast du Hunger?“

Der Junge schüttelte den Kopf.

„Du siehst blass aus.“

Gaetano ordnete diesen Umstand Marios Wachstumsschub, den er im Frühjahr hingelegt hatte, zu. Inzwischen überragte er seine Mutter um Haupteslänge. Seit August wirkte er geistesabwesend. Er musste ihn mehrmals ansprechen, wenn er in der Gasse zwischen den Häusern Getreide mörserte, um seiner Mutter beim Brotbacken zu helfen. Gaetano achtete darauf, dass er immer einen Krug mit Wasser in Marios Nähe abstellte.

Mario sollte im September bei einem Schmied im Castello in die Lehre gehen. Gaetano hatte mit dem Meister den Lehrvertrag ausgehandelt. Demzufolge sollte Mario künftig im Hause seines Lehrherrn wohnen, ein Umstand, der Clara ebenso belastete wie ihn und den Jungen, was dieser jedoch niemals zugegeben hätte.

„Ich habe geträumt, Papa“, sagte Mario und setzte die Milchschale auf dem Tisch ab, ohne einen Schluck getrunken zu haben. „Ich habe geträumt, dass wir alle verbrannt sind.“

Gaetano befühlte die Stirn des Jungen. „Du glühst ja.“

„Nein, Papa, ich bin nicht krank!“

Fünf Denare verlangte Meister Giuseppe dafür, dass er sein Wissen an den Jungen weitergab. Fünf Denare im Monat, eine Summe die eine der Hafendirnen in zwei Stunden verdiente, für die Gaetano drei Tage lang Schiffsladungen löschte, bis er sein Kreuz vor Schmerzen nicht mehr spürte. – Der Junge sollte es einmal besser haben.

Gaetano versuchte es mit väterlicher Strenge. „Unser Leben liegt in Gottes Händen. Bitte die Madonna del Soccorso um Verzeihung für deinen Frevel, mein Sohn! Dann wird sie dir helfen.“

Marios Züge verfielen. Er bekreuzigte sich. Sein Anblick verursachte einen Stich in Gaetanos Herzen. Wie oft in letzter Zeit hatte er versucht, den Jungen an den rauen Ton zu gewöhnen, der im Haus seines Lehrherrn herrschte?

„Wie Sie befehlen, Papa.“

Mario huschte durch die Haustüre. Gaetano blickte ihm noch nach, als seine Frau ihn rief. Sie stellte eine Schüssel mit Käse auf den Tisch.

„Worauf wartet Ihr, mein Gemahl?“

Gaetano erwachte aus seinen Gedanken. Er küsste sie am Hals, hinter dem Ohrläppchen. Clara mochte in den Jahren ihrer Ehe fülliger geworden sein, doch der Geruch ihrer Haut und ihres Haares war derselbe wie der jener Frau, die fast noch ein Kind gewesen war, als er sie kennengelernt hatte. Jener Frau, deren Leichtfüßigkeit und Anmut ihn vom ersten Moment betört hatten. Gaetano verlor sich in ihren dunklen Augen, die ihr Sohn Mario, ohne jeden Zweifel, von ihr geerbt hatte. Gaetano antwortete: „Ich habe einen langen Weg vor mir. Der Graf verlangt, dass ich ihm die nächsten Tage bei der Traubenernte auf dem Gut helfe.“

„Noch ein Grund, warum Ihr Euch stärken solltet“, antwortete sie und strich eine Strähne ihres schwarzen Haares aus der Stirn. Graue Fäden befanden sich darin, die ihrer Schönheit keinen Abbruch taten. Nichts konnte die Schönheit zerstören, die ihre Liebe ihm all die Jahre bereitet hatte.

„Mach dir keine Sorgen um mich, mein Herz“, antwortete er. „Ich bin bald zurück.“

„Die Jungen werden Euch vermissen. Und Mario – er…“

„Nein“, er legte einen Zeigefinger auf ihre Lippen – er wusste, was sie sagen wollte – Gaetano wollte nicht hören, wie sehr der Junge an ihm hing. „Vielleicht will Graf Roger sich früher von meiner Arbeitskraft trennen, wenn er sieht, dass die Schiffe den Hafen in den letzten Tagen anlaufen, als gäbe es keinen anderen auf der Welt. Wie es scheint, scheuen die Seeleute das Meer wie der Teufel das Weihwasser – seit …“ Seit die Piraten des maurischen Sultans der Insel den Krieg erklärt hatten, war er versucht zu sagen – und sagte stattdessen: „Es ist schon eigenartig! Während auf der anderen Seite unserer Insel die Menschen abgeschlachtet werden, geht das Leben in Castellamare del Golfo weiter, als wäre nichts passiert.“

„Warum sollte sich etwas ändern? Die Ungläubigen werden rauben, was ihnen in die Hände fällt, aber sie werden kein Interesse daran haben, bis zu diesem Ufer durchzudringen. Es sei denn …“

„Mama, Papa“, die Stimme des zehnjährigen Stefano hallte zu ihnen, ließ sie verstummen.

„Was ist mit den Piraten des Emirs von Ägypten  Badr Al Gamali?“

Es erstaunte Gaetano, wie leicht es dem Kind fiel, den Namen auszusprechen.

„Gar nichts ist mit Ihnen“, sagte Gaetano. „Und vergiss, was du gehört hast. Die Madonna del Soccorso lässt uns nicht im Stich. Und die Soldaten des Grafen Roger werden uns verteidigen, wenn die Piraten wirklich so dumm sind, auch unseren Hafen anzugreifen.“

„Aber Papa …“

Er hatte das Gerede der Menschen im Dorf satt. „Kinder in deinem Alter brauchen ihren Schlaf“, beendete Gaetano die Diskussion. Er nahm seiner Frau den Milchkrug aus der Hand und schenkte ein. „Ich will jetzt nichts mehr hören von den Ungläubigen, die unsere Insel unsicher machen!“

Eine Stunde später machte er sich auf den Weg.

 

Die Glocke hing über den Zinnen. Ihr Klang erinnerte an zersprungenes Glas. Gaetano marschierte unter dem Rundbogen des Tores in den Innenhof, wo der Capo die Männer von den Weinbergen erwartete.

„Was ist los?“, schrie Guiseppe.

Der Freund aus Kindertagen stieß Gaetano an. Die letzten drei Tage waren eine Tortur gewesen. Der Capo hatte auch jenen Männern, die schon länger als eine Woche ihren Frondienst leisteten, verboten, nach Hause zu gehen. Giuseppe befand sich seit zwei Wochen auf dem Gutshof um die Ernte einzubringen.

„Keiner verlässt heute Nacht diese Festung“, befahl der Capo.

„Was soll schon passieren?“, schrie Giuseppe.

Der Capo blieb vor ihm stehen. „Wenn du Kretin es noch einmal wagst, dem Capo deines Herrn und Grafen zu widersprechen, werde ich dich eines Besseren belehren.“ Er schwang die Peitsche.

Giuseppe verkniff sich jeden weiteren Kommentar. In den Schlafunterkünften fragte Gaetano:

„Wie lange werden sie uns noch hierbehalten?“

Giuseppe flüsterte. „Ich weiß nicht, mein Freund. Ich werde mir die Freiheit nehmen und ins Dorf hinunter laufen. Ich will sehen, was mit unseren Frauen und Kindern ist. Irgendwas an dieser Sache riecht faul! Oder was glaubst du – warum lassen sie uns nicht gehen?“

Giuseppe besaß ein Stück Land mit Olivenbäumen, wie die meisten der Männer hier. Es galt, auch die eigene Ernte einzubringen.

Gaetano erinnerte sich der schlechten Nachrichten. „Vielleicht lassen sie uns morgen gehen.“ In seinem Leben war er nur dreimal aus Castellamare del Golfo hinausgekommen. Umso schwerer fiel es ihm, sich die andere Seite der sizilianischen Insel vorzustellen. Die Gespräche, die die Männer tagsüber zwischen den Reben geführt hatten, wenn sie sich unbeobachtet wähnten, gingen ihm nicht aus dem Kopf.

„Vielleicht! Vielleicht auch nicht!“, entgegnete Giuseppe. „Ich pfeife auf ein Vielleicht! Ich jedenfalls verschwinde heute Nacht. Kommst du mit?“

Gaetano rieb sich die Schläfen. „Und wenn sie uns erwischen?“

Giuseppe schüttelte den Kopf. „Einer der Wachsoldaten des Grafen ist mir noch einen Gefallen schuldig. Und spätestens bis zum Morgen sind wir zurück!“

Das Funkeln in den Augen des Freundes ließ keine Widerrede zu.

 

Die Mauren erreichten das Dorf eine Stunde nach Mitternacht. Gaetano hatte sich bei der Kirche von Giuseppe getrennt. Sie waren drei Stunden gelaufen. Der Rückweg in die Berge würde noch beschwerlicher werden. Gaetano trank Wasser aus einem der Brunnen zwischen den Häuserschluchten, in denen die Wäsche an Schnüren trocknete. Gaetano wankte in Richtung der Via am Dorfrand, als ein ohrenbetäubender Knall ihn erstarren ließ. Die Erschütterung ergriff seine Eingeweide. Der Boden unter seinen Füßen bebte. Schreie folgten. Feuer am Horizont … Ein zweiter Schuss, ein dritter – der Hafen stand lichterloh in Flammen. Gaetano begriff, warum der Graf sie nicht gehen ließ: Graf Roger hatte mit dem Angriff der Piraten gerechnet. Zur Verteidigung des Gutshofs und seiner Kostbarkeiten brauchte er jeden wehrfähigen Mann!

Gaetano lief. Der Geruch von Feuer und Rauch erreichte seine Nase. Kinder und Frauen rannten ihm aus ihren Häusern entgegen. Die Familien flüchteten in Richtung Kirche. Gaetano rannte in entgegengesetzter Richtung.

„Clara! Mario … Stefano …“

Er suchte zwischen den bekannten Gesichtern nach ihnen. Den ersten maurischen Piraten sah Gaetano in der Kreuzung zwischen Via Rosalia und der Kapelle des Heiligen Emilio. Der Mann trug einen Säbel und eine Tunika. Der Pirat sprang auf ihn zu und schwang seinen Säbel. Der Mann war ein Junge, erkannte Gaetano in dem Moment, nicht älter als sein Sohn Mario. Gaetano schaffte es, dem Jungen zu entkommen. Er rannte so schnell ihn seine Beine trugen und erreichte das Haus, in dem Clara und die Kinder wohnten und …

Das halbe Dutzend der Mauren stürmte aus dem brennenden Gebäude. Rauch begleitete sie wie ein schwarzes Segel. Einer der Mauren durchbohrte Antonia – die Frau des Schusters aus der Via Roma – mit einem gezielten Stich in den Hals. Gaetano warf sich zu Boden. Die Frau des Schusters landete neben ihm. Blut pumpte aus ihrem Hals, bildete eine Lache. Gaetano erbrach Galle. Die Angreifer trampelten über sie hinweg, flohen ebenfalls vor den Flammen. Gaetano raffte sich auf. Die Feinde hatten sich offenbar in andere Gassen zurückgezogen. Gaetano prallte mit der linken Schulter gegen seine Haustür. Der Löwe mit dem Ring, der dazu diente, anzuklopfen, schien im Feuerschein zu glühen. Gaetano stolperte über die leblosen Körper neben dem Tisch, auf dem der Milchkrug stand, der Laib Brot, den Clara am Tag vor seinem Aufbruch gebacken hatte. Sein Blick glitt über ihre Körper. Clara trug ihr Nachtgewand, das völlig zerrissen war. Die Mauren hatten sie vom Bauch abwärts bis zu ihrer Scham aufgeschlitzt. Ihre Züge offenbarten Schmerz und Verzweiflung. Die beiden Jungen lagen mit durchgeschnittenen Kehlen neben ihr. Rauch drang durch jede Ritze des Hauses. Gaetano sank neben Mario in die Knie. Der Junge schien ihn mit seinen großen leblosen Augen anzublicken, jenen Augen, denen dieselbe Schönheit innegewohnt hatte, wie denen seiner Mutter. Stefanos Hand lag neben der seines Bruders, als hätte er sich in seinem Todeskampf an diesem festgehalten.

Feuer … Rauch … Schreie … brachen wie eine Flut über Gaetano herein. Er hörte die Stimme eines Mannes, der in ein erbärmliches Wimmern verfiel, bis sein Kehlkopf schmerzte – und er begriff, dass er selbst dieser Mann war. Der Atemzug, in dem diese Erkenntnis ihn erreichte, schien eine Ewigkeit zu dauern. Erst als er einen Schlag gegen seine Brust verspürte, erwachte Gaetano – und er erinnerte sich des Traums, den Mario ihm offenbart hatte…

Der Mann, der ihm gegenüberstand, hatte dasselbe Gesicht wie sein Freund Giuseppe. „In Gottesnamen! Ich habe dich schreien hören, Gaetano …“, schrie Giuseppe. „Wir müssen hier weg! Am Hafen … Die Soldaten des Grafen …“

Das Gesicht des Freundes hatte sich verändert, die Falten wirkten tiefer, als wären sie mit einer Messerspitze gezeichnet worden. Giuseppe packte ihn und zerrte ihn aus dem Haus. Sie tauchten die Zipfel ihrer Hemden in einen Brunnen, pressten ihre Nasen und Münder gegen den Stoff. Das Wasser verdunstete, während sie von einer der verwinkelten Gassen in Richtung der anderen liefen. Soldaten des Grafen Roger ritten ihnen auf ihren Pferden entgegen. An den Schilden erkannte Gaetano das Wappen mit dem Kreuz. Irgendwo in der Via Schiavo verlor Gaetano das Gedächtnis. Er wusste später nicht, wie er zu den Bergen gelangt war und den Höhlen im Gestein, in denen Männer, Frauen und Kinder Zuflucht gefunden hatten, um in ihrer Not zur Madonna del Soccorso beten.

Eine Frau wimmerte: „Die Ungläubigen spießen Christen mit ihren Lanzen auf und braten sie über dem Feuer ...“

Gaetano lehnte sich gegen den Felsen, ließ sich zu Boden gleiten. Das Bild von Clara und den Jungen tauchte vor seinem geistigen Auge auf. Er hörte Claras geliebte Stimme, die ihm Vorhaltungen machte, weil er den Jungen ihrer Meinung nach alles durchgehen ließ. Von all dem Leid, das um ihn herum geschah, nahm er nichts mehr wahr. Nicht einmal mehr Angst empfand er in diesen Stunden des Piratenangriffs.

 

Graf Rogers Soldaten schlugen die Piraten in die Flucht. Antonio, der Enkelsohn des Bürgermeisters von Donnalucata avancierte zum Helden, was die Schwester des Schusters von Castellamare del Golfo dazu bewog, ihre Meinung über den ehemaligen Matrosen des Grafen Rogers zu revidieren. Von nun an nannte sie jeden einen Lügner, der behauptete, sie habe Antonio dereinst die Exkommunikation an den Hals gewünscht. Antonio war den Soldaten des Castellos zur Hand gegangen, Wasser in den Kesseln zum Kochen zu bringen und durch die Pechnasen über die Piraten des Emirs zu vergießen. Bergeweise hatte er Olivenholz in den Hainen geschlagen und angeschleppt. Damit war die Besatzung des Castellos auf den Angriff gefasst gewesen. Die Soldaten des Grafen Roger schlugen die Mauren mit Schwertern und Lanzen in die Flucht. Als die Sonne über dem Meer aufging, rannten die überlebenden Mauren zu ihren Booten und flohen zu ihren Zweimastern. Auch aus Donnalucata trafen gute Nachrichten ein. Die Ungläubigen waren zuhauf ums Leben gekommen und warteten in den Verliesen der Insel auf ihren Prozess.

Gaetano vernahm die Nachrichten wie durch eine Mauer hindurch. Giuseppe versuchte ihn dazu zu überreden, auf den Gutshof zurückzukehren und den Capo um Gnade zu bitten wegen ihrer Flucht. Im Siegestaumel konnte ihnen kein Mensch einen Vorwurf daraus machen, dass sie sich Sorgen um ihre Familien gemacht hatten und …Gaetano stimmte dem Vorschlag des Freundes zu. Giuseppe wartete auf ihn bei der Kirche. Als er nach einer Stunde noch immer nicht auftauchte, machte sich Giuseppe alleine auf den Weg. Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind, dem Gaetano an diesem Morgen auf der Via Zangara, die zum Hafen führte, begegnete, ging ihm aus dem Weg. Gaetano kletterte einen der mit Kakteen umsäumten Hänge hinab. Der Geruch des Salzwassers erfüllte seine Lungen und seinen Körper. Einen Augenblick schien es ihm, als ob das Wasser das Leben in ihn zurückbrächte. Er entdeckte den Leichnam eines Piraten. Ein Pfeil stak in seinem Rücken. Die Ebbe gab sein Gesicht frei. Er hing zwischen den Felsen wie ein Stück Treibholz. Gaetano berührte sein Gesicht, seinen Hals – es handelte sich um denselben Jungen, der ihn an Mario erinnert hatte. Seine Hände glitten über den Stoff der Tunika, den Gürtel, in dem der Dolch steckte, an dessen Klinge das Blut unzähliger Christen klebte. Der Junge war groß gewachsen – einen Kopf größer als Mario …Während diese Gedanken durch seinen Kopf geisterten, reifte ein Plan in Gaetano heran. Das Rauschen des Meeres, das Glitzern der Gischt schienen ihm wie eine Prophezeiung. Er hörte die Stimme seines zweiten Sohnes Stefano:

Was ist mit den Piraten des Emirs von Ägypten  Badr Al Gamali?

Gaetano sprach den Namen des Mannes wie ein satanisches Gebet und schlüpfte in die Kleidung des Jungen. Er schlich zum Pier, wo die Boote der Fischer vor Anker lagen. Das Boot seines Schwagers Alfredo hatte von allen am wenigsten unter den Feuern gelitten.

„Verzeih mir“, flüsterte Gaetano und löste den Knoten, ergriff das Ruder, straffte das Segel. Der Wind trug ihn hinaus. Das Meer wiegte ihn sanft. Tränen liefen ihm über die Wangen. Als Gaetano gegen Mittag neben dem Masten zusammenbrach und  zur Sonne aufschaute, schien es ihm wie ein Vorgeschmack auf den Himmel. Er vergaß die Menschen in Castellamare del Golfo – vergaß, wovon ihre Geschichten handelten und ihre Ängste.

 

„Wer bist du? Von welchem Schiff kommst du, Sohn einer räudigen Hündin – Giaur?“

Gaetano spürte die Planken eines Schiffes unter seinen nackten Füßen. Die Sonnenstrahlen verstärkten den Schmerz zwischen seinen Schläfen. Er spürte Fesseln an Armen und Beinen.

Die Mauren standen um ihn, betrachteten ihn wie einen Fisch, der ihnen ins Netz gegangen war. Sie hatten sein Boot am dritten Tag aufgelesen. Der Mann, der mit ihm sprach, verstand offenbar als einziger seine Sprache.

„Der Kapitän kann dir auch die Zunge herausschneiden lassen“, fuhr er fort.

Gaetano antwortete: „Badr al Gamali.“

Die Männer lachten. Der Sprecher schlug ihm ins Gesicht. „Der Emir empfängt keine Ungläubigen!“

Zwei der Piraten zogen Gaetanos Beinkleider herunter.

Der Dolmetscher erklärte: „Unser Kapitän hat sich dagegen entschieden, dir die Kehle durchzuschneiden, Ungläubiger. Er ist ein Freund des Emirs. In den Harems des Emirs werden immer Wächter gebraucht. Du hast die Wahl, Fremder.“

Gaetano spürte die Hände eines Mannes, die sein Skrotum festhielten.

Der Kapitän lächelte ihm zu. Ein dritter Mann zückte einen Dolch. Gaetano spürte die Klinge unterhalb seines Gliedes und hielt die Luft an.

Der Kapitän sprach – der Übersetzer erklärte: „Du hast die Wahl, Giaur, Tod oder …“, er hob bedauernd die Schultern, „… oder ein kleiner Tod!“

Gaetano biss die Zähne zusammen und nickte. Er dankte Gott für diese Fügung, die ihn an sein Ziel geführt hatte, während die Schmerzen seinen Körper durchfluteten.

 

Tunis, Januar 1092

Fatima räkelte sich – so wie Gott sie geschaffen hatte – vor ihm. „Worauf wartest du, Gaetano, mein Verbündeter?“

Er griff in den Tiegel mit der Salbe, die den Menschen – wie sie ihm erklärte hatte – Flügel verlieh, und begann, sie am Rücken, an den Brüsten und zwischen den Beinen einzumassieren.

„Jetzt werden sie büßen, für das, was sie uns angetan haben, Gaetano.“ Sie lächelte selig.

Fatima redete in seiner Sprache. Früher hatte sie einen anderen Namen gehabt – bevor die Piraten des Emirs sie in seinen Harem verschleppt hatten. Ihr Haar duftete nach Rosen, ihre Haut nach Zedern. Die Haare an ihrem Genital rasierte ein Barbier, der ebenfalls seine Männlichkeit gegeben hatte, an Tagen, die mit abnehmendem Mond einhergingen. Ihren früheren Namen hatte Fatima ihm nicht verraten. Nicht einmal der Emir – sofern es ihn interessiert hätte – würde ihn je erfahren. „Eher lasse ich mir die Zunge herausschneiden, Gaetano“, hatte sie ihm geschworen. „Badr al Gamali ist ein alter Mann. Und heute Nacht ist er ein toter Mann.“ Sie erhob sich.

Gaetano nickte. Das Bild der Leichen, das er seit dem Überfall in sich trug, offenbarte sich in seinem Innern. Der Hass, der seither in ihm loderte, ließ ihm keine Wahl, als sich mit ihr zu verbünden.

„Du bist eine Madonna“, flüsterte er in ihr Ohr.

Sie steckte ihm den Dolch zu, den sie einem der Wachsoldaten gestohlen hatte. Der Harem war nach dessen Verlust durchsucht worden. Kein Stein war auf dem anderen geblieben. Der Emir hatte dem Soldaten zur Strafe für seine Unachtsamkeit ein Ohr abschneiden lassen. Fatima hatte die Klinge in einem Spiegel aus Olivenholz versteckt. Perlmutt verzierte den doppelten Boden des Spiegels. Sie liebte es, sich darin zu betrachten. Das Heft der Waffe lag unter einer Matratze, die mit weißen Federn gefüllt war. Die Mauren hatten die seltsame Angewohnheit, in Betten zu schlafen, anstatt auf dem Boden mit Strohsäcken.

„Der Gott der Christen stehe uns bei, Gaetano“, hauchte sie in sein Ohr.

Nicht einmal ihr süßer Atem, der nach Feigen roch, vermochte ihn in Erregung zu versetzen. Wehmut überkam ihn, als er an das große Meer dachte, über das die Piraten ihn verschleppt hatten. Er würde die Küste, an der seine Reise begonnen hatte, nicht wieder sehen, begriff er. Das Meer schien ihm wie eine Grenze zu seinem alten Leben – in eine andere Welt … Schließlich waren die Mauren mit ihren Schiffen über die Wellen gekommen – und hatten sein Leben für immer zerstört!

„Hier“, Fatima ergriff seine Hand mit der Waffe, „heute Nacht werden wir in Frieden über das Wasser gehen, so wie unser Herr Jesus Christus es uns gezeigt hat.“

Er wich ihrem Blick aus. Ein Teil in ihm trauerte um ihre Jugend und Schönheit, die dem Tode geweiht waren, seit dem Moment, da sie ihr geheimes Bündnis eingegangen waren. Ihre Haut fühlte sich weich an – wie Claras Haut, als sie jung und er verrückt nach ihr gewesen war.

„Es ist vorbei“, murmelte er.

„O Gaetano, was bist du für ein Mann?“, flüsterte sie.

Er wandte sich ab. Der Dolch verschwand in seinen bunten Beinkleidern, die er trug, seit er im Palast des Emirs diente.

Der Emir betrat im selben Moment, da Gaetano an dessen Hunde dachte, Fatimas Gemach. Badr al Gamali war ein hübscher Mann obwohl er die Siebzig bereits überschritten hatte. Er löste den Turban um sein kahles Haupt. Die Falten auf seiner Stirn und die leuchtenden Augen verrieten seinen wachen Verstand. Mit einer Handvoll Männer hatte er den Kalifen von Kairo nachts in seinem Bett erstochen – das war vor zwanzig Jahren gewesen! Seither regierte er das Land von Tunis bis zum Nil.

„Mein Geliebter“, sagte Fatima.

Sie kniete vor ihm nieder, nahm seine Hand, küsste sie und legte sie auf ihre Stirn.

Der Emir wandte sich Gaetano zu: „Lass uns für eine Weile allein, Eunuch!“

Gaetano trat nach draußen. Er spürte die Blicke der Leibwächter – eine Mischung aus Verachtung und Mitleid. Stöhnen drang durch die hölzernen Wände. Die Außenmauern des Palastes waren aus Stein erbaut. Die Flügelsalbe an Fatimas Körper trug sie in den Himmel der Ekstase empor, verriet ihm ihr Stöhnen. Der Emir galt als ein Meister mit der Zunge. Die Wirkung der Salbe würde ihn zu einem wehrlosen Opfer machen. Dem ersten Höhepunkt folgte der Kleine Tod. Ein leises Atmen, das vom Schlaf des Emirs und seiner Sklavin kündete, ließ sich vernehmen, als einer der beiden Leibwächter die Tür einen Spaltbreit öffnete. Gaetano schloss die Augen, um dem Anblick der nackten Körper zu entgehen.

Kurze Zeit darauf vernahm er erneut Geräusche der Lust. Gaetano blickte zu den Leibwächtern, die obszöne Gesten vollführten.

Ein Schrei ließ ihn erstarren: „Töte ihn, Gaetano! Töte ihn, der Bastard ist Wachs in meinen Händen …“

Gaetano stürzte in das Gemach. Auf der Matratze neben dem Diwan räkelte sich der Emir. Gaetano zückte den Dolch. Die Leibwächter erreichten ihn. Der erste ergriff seinen linken Arm. Gaetano trat ihm in den Unterleib, worauf dieser ihn schmerzverzerrt anstarrte, jedoch seine Attacke fortsetzte, indem er Gaetano einen Schlag mit der Faust gegen den Hals verpasste. Gaetano sackte in die Knie.

Fatimas Kreischen hielt ihn bei Sinnen. „Er hat es verdient! Bei der Heiligen Jungfrau – Gaetano, stoß´ zu!“

Gaetano spürte einen weichen Widerstand. Die Spitze bohrte sich durch Fleisch. Gaetano zog die Waffe aus dem Körper des Emirs, stieß ein zweites Mal zu, worauf ein Blutstrom sich über die Menschen und die feinen Tuche ergoss. Fatimas nackter Leib sah aus, als habe sie im Blut des Emirs gebadet. Ein Tross aus Palastwachen stürmte in den Raum. Gaetano versuchte, das Messer nach Fatima zu stoßen, um ihr einen grausamen Tod zu ersparen. Er verletzte sie am Hals. Sie brach neben dem Emir zusammen – röchelnd. Der Emir erhob sich, wankte. Gaetano setzte die Waffe über seinem eigenen Herzen an und …

Die Leibwächter überwältigen ihn, rangen ihn zu Boden. Der Emir erhob sich. Er hielt sich mit einer Hand die Wunde am Rücken – sprach das Todesurteil über Gaetano. Gaetano verstand, ohne der Sprache des Emirs mächtig zu sein. Die Wachen trugen den Emir auf einer Liege aus dem Gemach. Gaetano sprach ein Gebet, blickte zu Boden. Fatima schaute ihn mit offenen Augen an.

„Erlösung …“, wimmerte sie. „Erlösung, mein geliebter Gaetano …“, ehe die Kraft in einem letzten Atemzug ihrem Körper entwich.

Niemand würde jemals ihren Namen erfahren, durchfuhr es Gaetano. Er empfand eine tiefe Trauer. Sie führten ihn nach draußen in den Hof. Er leistete keine Gegenwehr. Von den Palisaden aus sahen die Soldaten, Frauen, Kinder und Sklaven zu, wie der Henker begann, sein Werk an ihm zu verrichten. Er spürte die Fesseln um seine Arme und Beine. Der Henker setzte das Messer über dem Bauch an und setzte einen Schnitt von links nach rechts. Die Soldaten hielten ihn fest. Darmschlingen quollen durch die Bauchdecke. Der Henker schnitt einige Ellen ab und warf das Gedärm ins Feuer. Rauch wehte Gaetano ins Gesicht. Die Menge schrie dem Henker vor Begeisterung zu. Gaetano verlor das Bewusstsein. Es dauerte einen Tag und eine ganze Nacht, ehe sie es schafften, ihn zurückzuholen, um ihr Werk fortzusetzen. Der Henker trennte ihm Finger und  Zehen ab. Ein Medikus verabreichte ihm ein Tonikum, das eine neuerliche Ohnmacht verhinderte. Gaetano versuchte sich am Bild seiner Frau und seiner Söhne festzuhalten, während die Messer sein Innerstes nach außen kehrten.

Der Emir wohnte der Zeremonie bei. Der Medikus hatte es geschafft, seine Blutung zu stillen. Er gewann an Lebenskraft, je mehr das Leben aus Gaetanos Leib wich. Gaetanos Herz lag warm in den Händen des Emirs, als der Leichnam längst erkaltet war. Jene Zuschauer, die der Hinrichtung beigewohnt hatten, erzählten sich, das Herz des Sizilianers habe noch Stunden nach dessen Tod weitergeschlagen, ehe der Henker es zwischen seinen Händen zerquetscht hatte. Der Emir verfütterte es an seine treuen Hunde in den Zwingern. Den Leichnam transportierten sie auf einem Kahn auf das Meer hinaus und hingen ihn an einem Tau ins Wasser. Haie ließen nichts von ihm übrig. Fatimas Leib wurde nackt vor dem Palast ausgestellt, ehe die Hunde ihn in Stücke rissen.

 

Die Schwester des Schusters wusste nicht, was aus Gaetano geworden war. Sein Freund Giuseppe wandte sich an den Enkelsohn des Bürgermeisters von Donnalucata, wo die Mauren mit vierzig Schiffen versucht hatten, die Gewalt über die Insel zu erringen. Aber auch Antonio, der Held von Castellamare del Golfo, wusste nicht, was aus Gaetano geworden war. An dem Tag, an dem die Soldaten des Grafen Roger und die Dorfbewohner die Piraten in die Flucht gejagt hatten, hatte man ihn zuletzt in der Nähe des Hafens gesehen. Es hieß, das Wasser habe Gaetano magisch angezogen.

 

 

 

 

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© Michael Seitz